Ostanatolien und Georgien

Die Grösse und Schönheit der Osttürkei mit ihrer Gebirgslandschaft ist schlicht atemberaubend. Wir hatten weite Strecken zu bewältigen, dennoch erreichten wir den Nemrut Dagi im Taurusgebirge einen Tag früher als geplant. Die Serpentinenstrasse endet auf 2'100 Metern über Meer. Wir kamen gerade rechtzeitig, um die fein gearbeiteten, mannshohen Steinköpfe im milden Licht der untergehenden Sonne zu bestaunen. König Antiochos I. setzte sich mit dieser hellenistisch-persischen Tempel- und Grabanlage kurz vor Christi Geburt ein beinahe zeitloses Denkmal.  

Wir waren bereits fünf Wochen in der Türkei und weit gereist, hatten viel gesehen und oft spontane Gastfreundschaft geniessen dürfen. Doch es zog uns unwiderstehlich nach Georgien, unsere Terra incognita. Wir sehnten uns nach der lange im Voraus reservierten Wohnung in Tiflis, mit all ihren Annehmlichkeiten, nach europäischem Flair zur Weihnachtszeit und nach Abwechslung im Speiseplan. Also überquerten wir erste schneebedeckte Pässe und folgten den Flüssen Tortum und Coruh in den Norden. Die 80 Kilometer lange Gebirgsstrasse führte durch unzählige Tunnels, vorbei an Stauseen und durch schmutziggraue Bergarbeiterstädte.  Vor Hopa sahen wir Teeplantagen, die jeden nutzbaren Flecken Erde einnehmen und die wenigen Häuser an den steilen Hängen belagern, und schliesslich das Schwarze Meer. Wir folgten seinem Ufer und erreichten Batumi in Georgien - unser neuntes Reiseland.

Die Fahrt ins Zentrum von Batumi war die wohl nervenaufreibendste bisher. Es war bereits Nacht und Autos drängten von allen Seiten auf uns ein. Dunkel gekleidete, kaum erkennbare Fussgänger hetzten und schlängelten sich zwischen den Autos durch. Die gepflasterten Strassen der Altstadt sind eng und die eine Hälfte meist komplett zugeparkt, was einen zwingt, dem entgegenkommenden, hupenden und lichtblinkenden Fahrzeug auszuweichen. Das ist meist nur möglich, indem man die Gasse rückwärts fahrend wieder frei gibt. Die einzige Chance, aus diesem Chaos heil rauszukommen, ist, genauso rüpelhaft zu fahren.  

Batumi ist Georgiens grösste Hafenstadt. Hier werden Öltanker abgefertigt. Gleichzeitig ist die Stadt am Schwarzen Meer ein Badeort und beliebtes Ausflugsziel der Russen-Schickeria. Batumi mutet wie eine willkürliche Mischung aus Vergnügungspark und Technologiestandort an. Die teils maroden Häuser der Altstadt sind umgeben von futuristischen Wohn- und Geschäftstürmen sowie im Jugendstil gebauten Regierungsgebäuden und durchsetzt von Casinos, Weinschänken und als Massagesalons getarnten Puffs.

Nach Batumi wurde es dennoch augenfällig: Georgien ist ein armes Land. Die Menschen suchen nach ihrer Loslösung von der ehemaligen Sowjetunion noch immer ihren Platz auf der Weltbühne und im täglichen Leben. Der übermächtige Bruder Russland unterstützt die Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Regionen Georgiens zu seinen Gunsten und wird von vielen als Besatzungsmacht empfunden. Die demokratischen Prozesse stecken noch in Kinderschuhen und politische Differenzen werden teilweise faustfest ausgetragen. Auch wirtschaftlich darbt das Land, obwohl einige westliche Investoren touristisches Potential ausmachen. Viele Häuser sind baufällig, die Strassenbeläge rissig und mageres Vieh sucht in den Strassengräben nach Verwertbarem.

Wir peilten Mestia in Swanetien an, das für seine mittelalterlichen Türme bekannt ist. Eine weisse Märchenlandschaft erwartete uns und «Drei Nüsse für Aschenbrödel» klang in unseren Köpfen an. Wir erkundeten die steilen, gepflasterten Gassen und erklommen einen Wehrturm mit fünf Etagen und steilen Holzleitern, wofür wir mit einer herrlichen Sicht auf das Dorf und die Gipfel des grossen Kaukasus belohnt wurden.

Auf der Rückreise schneite es auf die teilweise vereiste Strasse. Nach zwei Stunden Fahrt hatten wir erst 40 Kilometer geschafft und 100 weitere lagen noch vor uns. Weiter unten im Tal war die Strasse zwar schneefrei, dafür mussten wir Slalom um fussballgrosse Steinbrocken fahren.

Mit Winterbeginn blieb das Dachzelt zugeklappt und wir übernachteten in B&Bs. Dabei lernten wir unsere Gastgeber und ihre Umgebung etwas näher kennen. So auch Shako und seine Familie, die ein für Georgien typisches zweistöckiges Landhaus bewohnen: Die Fassade des oberen Stockwerks ist nach innen versetzt und macht einer schmalen Veranda Platz, deren Säulen mit Schnitzwerk verziert sind. Auf die Galerie gelangt man direkt vom Garten über eine geschwungene Eisentreppe.  

Das Grundstück ist eingefriedet von einem schweren Metallgitter. Im Erdgeschoss das Gästezimmer sowie ein zweiter, scheinbar nicht bewohnter Raum. Dieses museal anmutende Zimmer mit seinen Rokoko-Sesseln und -Sofa, einem Buffet und verschiedenen Tischchen mit Spitzendecken und Nippessachen, scheint sämtliche Erbstücke und Familienschätze zu vereinen, die hier fernab vom Alltagsgebrauch sicher aufbewahrt und ausgestellt sind.

Der Hauseingang führt direkt in die Stube. Gleich links eine Couch und gegenüber ein Fernseher, der in Dauerbetrieb entweder Nachrichten oder Musikclips ausstrahlt. Auf der Couch hat der Grossvater seinen Platz. Er ist 89-jährig und döst die meiste Zeit. In seinen wachen Momenten haucht er ab und zu einige Worte Richtung Küche zur Hausherrin oder ist damit beschäftigt, den Hundewelpen abzuwehren, der sich in seinen Gehstock oder den Ärmel seiner Strickjacke verbeisst.  Neben dem Sofa der Holzofen, der mit einem Trichter versehen ist, in dem Haselnussschalen für ständigen Nachschub an Brennmaterial sorgen. Der Raum ist vollständig mit gebeiztem Holz vertäfelt, das die Wärme speichert und eine behagliche Atmosphäre schafft. Wir sitzen am Esstisch und werden mit süssen Brötchen, Wabenhonig, Butter, Tee und Kaffee bewirtet. Wenn unsere Gastgeberin nicht gerade mit dem Hund schimpft, der sich mittlerweile unseren Schuhen widmet, dann kümmert sie sich rührend um uns und bringt weiteren Nachschub an Köstlichkeiten. Unsere mittels Übersetzer-App geschriebenen Dankesbezeugungen und Nettigkeiten quittiert sie mit mädchenhaftem Kichern.  

Shako, ihr Sohn, zeigt uns die Aussenbereiche. Unter dem Vordach befindet sich die Toilette und ein grosses, steinernes Waschbecken. Gleich hinter dem Haus eine unübersichtliche Anzahl von Unterständen mit Autoersatzteilen und Gartengerät, Bienenstöcke, ein Hühnerhaus und ein Schuppen. Darin reihen sich Gläser mit Eingemachtem und Flaschen mit Chacha (Schnaps) und Wein, die er uns alle probieren lässt. Er erklärt, dass die meisten Menschen auf dem Land ihren eigenen Wein ziehen, etwas Gemüse anbauen und Vieh halten. In der Garage parkt Vaters Stolz, ein granatapfelroter Wagen der Marke Moskvich, ein Relikt aus der Sowjetära. 

Georgien ist wie ein Sandwich: Im Norden der grosse und im Süden der kleine Kaukasus, dazwischen das flache Mittelland, in dem der grösste Bevölkerungsteil lebt. Borjomi, der frühere Kur- und Badeort der Zarenfamilie, ist bekannt für sein schwefelhaltiges Thermalwasser. Das Bad erreichten wir über einen Weg, der erst durch einen winterfest verpackten Vergnügungspark mit Achterbahn, Piratenschiff und Klettergarten führt, und der dann in einen Waldpfad übergeht. Es besteht aus zwei Umkleidekabinen und drei Becken mit lauwarmem Wasser. Wir waren die einzigen Badenden. Es waren nur noch ein saudisches Paar mit seinen Leibwächtern anwesend – sie in eine winterfeste Burka verpackt, er im Kaschmirmantel und Designerschuhen. Und nicht weit entfernt posierte eine Frau im Bauchtanzkostüm vor der Kamera ihres Begleiters. Eine irgendwie bizarre Szenerie.

Am nächsten Tag wanderten wir im angrenzenden Nationalpark, überwanden 580 Höhenmeter im Wald bis zum Felskamm hoch und liessen uns von der Sonne wärmen. Der Abstieg hatte es in sich, weil wir die Höhenmeter in einer praktisch mit der Schnur gezogenen Geraden innerhalb nur einer Stunde bewältigten. Die Oberschenkelmuskulatur erinnerte uns noch lange daran.

Die letzten Tage vor Wohnungsübernahme in Tiflis verbrachten wir in Ananuri in einem gemütlichen Gästehaus, das wir ganz für uns alleine hatten. Ebenfalls in diesem Tal des grossen Kaukasus liegt Gudauri, das grösste Skigebiet Georgiens. Als begeisterte Telemarker mussten wir das einfach sehen. Aber ausser qualmende Lastwagenkolonnen in Richtung Russland gab es nicht viel zu bestaunen - vor allem lag kaum Schnee.

In Tiflis angekommen geniessen wir nun die temporären «eigenen» vier Wände bis Mitte Februar. Dann reisen wir weiter auf den alten Routen der neu belebten Seidenstrasse.