Das heutige Georgien aus der Sicht von Giorgi, Familienvater und Unternehmer

Einleitung

Als wir anfangs Dezember 2019 nach Georgien einreisten, machten wir erst in Batumi halt. Batumi ist eine Stadt am Schwarzen Meer, mit einer schönen Altstadt, gepflegten Regierungsgebäuden im Jugendstil und hypermodernen Glaspalästen im Besitz internationaler Konzerne und Finanzkonglomerate. Batumi ist Handelsplatz und Umschlaghafen für Öl, ein Sommerbadeort und eine Stadt des Spiels und des Lasters, das vermögende Russen und Türken gleichermassen ins Land lockt. Touristisch gut entwickelt. Der erste Eindruck bestätigt die Lobeshymnen auf Georgien als neuen Tourismus Hotspot.
Einen anderen Eindruck gewinnt man, sobald man Batumi hinter sich lässt. Auf dem Land scheint die postsowjetische Ära noch anzudauern. Zerfallene Fabriken, marode Häuser grau in grau, kleine Gärtchen und brachliegende Äcker. Hunde und Schweine, die in den Abwassergräben nach Verwertbarem stöbern.

Viele Menschen leben offensichtlich in ärmlichen Verhältnissen, viele sind arbeitslos. Und eine bleierne Schwermut scheint über dem Land zu liegen. Kaum je lachende Menschen zu sehen oder zu hören. Die Gesichter schauen ernst, sie drücken weder Zu- noch Abneigung aus. Im Verkehr will jeder der erste sein, überholt wird derart risikoreich, als sei man dem Leben gegenüber völlig gleichgültig. Der Zustand der Fahrzeuge entspricht jenem der Häuser. Es scheint fast, als hätten viele Georgier ihren Traum vom guten Leben aufgegeben.

Ich bin mir meiner privilegierten Lage als Schweizer bewusst: Ich habe keinen Tag meines Lebens Hunger gelitten oder um mein Leben fürchten müssen oder musste mitansehen, wie der Krieg Länder, Dörfer und Existenzen zerstörte. Ich möchte nicht urteilen, sondern verstehen: Warum diese Schwermut der Georgier? Was unterscheidet sie von anderen, in ihrer Geschichte mehrmals besetzten und kriegsgeplagten Ländern dieser Welt?

Georgiens Geschichte

Um das im nachfolgenden Interview Gesagte besser einordnen zu können, habe ich mich vorgängig etwas mit der Geschichte Georgiens vertraut gemacht:

Die Region im südlichen Kaukasus, mit ihren ehemals drei Königreichen und fünf Fürstentümer, war aufgrund ihrer strategischen Lage (Sammelpunkt der Seidenstrasse, Tor nach Russland, Europa und Asien) stets Eroberungszügen ausgesetzt: Griechen unter Alexander dem Grossen, Römer, Sassaniden, Araber, Osmanen, Mongolen, Perser und schliesslich die Russen. 1801 wurde Ost-Georgien durch den russischen Zaren annektiert, die vollständige Kontrolle über ganz Georgien gelang erst um 1864. Georgien blieb dem russischen Kaiserreich einverleibt, bis zur Oktoberrevolution 1917 durch die Bolschewiken. Die 1918 gegründete Demokratische Republik Georgien behielt ihre Unabhängigkeit nur gerade zwei Jahre, bis zum Einmarsch der roten Armee 1921 und der Integration in die Sowjetunion. In den 1980er Jahre erstarkte die georgische Unabhängigkeitsbewegung und gipfelte in der Unabhängigkeitserklärung vom 9. April 1991, noch vor dem Augustputsch in Moskau und dem Zerfall der UdSSR. Es folgten langjährige Sezessionskriege in Südossetien und Abchasien. Der erste Präsident Georgiens wurde in bewaffneten Auseinandersetzungen geputscht, mit mehreren hundert zivilen Opfern. Der neu eingesetzte Präsident Eduard Schewardnadse, ex KP-Chef und sowjetischer Aussenminister, ermöglichte zwar erste Demokratisierungsbestrebungen, hielt aber am vorherrschende Clansystem und der damit einhergehenden Korruption fest. Er wurde mehrmals der Wahlfälschung bezichtigt. 2003 erfolgte die Rosenrevolution mit dem gewaltlosen Sturm des Parlaments durch junge Oppositionelle und dem Rücktritt Schewardnadses. Der neue Präsident Micheil Saakaschwili trieb demokratische Reformen voran. Die neue Regierung verschrieb sich der Entbürokratisierung und damit der Entmachtung alter Eliten und Netzwerke und einer rigorosen Korruptions- und Verbrechensbekämpfung. Viele Exilgeorgier kehrten mit Geld ausländischer Investoren zurück. Die Privatisierung des öffentlichen Sektors verlief jedoch nicht ohne Bereicherungen durch deren Strippenzieher. Fast zeitgleich eskalierte der Südossetien- und Abchasien-Konflikt und es kam zum offenen Krieg mit dem die beiden Regionen protegierenden Russland. Russland anerkennt bis heute Abchasien und Südossetien als unabhängige Republiken und seine Militärpräsenz kommt aus georgischer Sicht einer Annexion gleich.      

Interview

Während unserer Zeit in Tiflis lernte ich Giorgi kennen und bat ihn um ein Interview, um mehr über die jüngste Vergangenheit Georgiens zu erfahren. Giorgi, Jahrgang 1986, leitet ein Architekturbüro, ist verheiratet und hat eine fünfjährige Tochter. Er zählt sich und seinen Bekanntenkreis zur Elite Georgiens, die sich der demokratischen und freiheitlichen Entwicklung Georgiens und dessen Anbindung an Europa verpflichtet fühlt.    

Giorgi, wie war das Leben damals im sowjetisch besetzten Georgien?

Vor der Besetzung durch die Russen war Georgien ein reiches Land, das vor allem von der Landwirtschaft lebte. Wir hatten alles: fruchtbares Land, Wein, Früchte, Vieh und sogar Gold und andere Metalle. Die Menschen hatten ein einfaches, aber gutes Leben. Aber mit den Russen kamen Unterdrückung, Korruption und Verbrechen.  
Es gibt drei Dinge, die uns Georgiern heilig sind: die Religion, der Glaube und der Wein. Die Russen sind in unser Land eingefallen und haben uns alles genommen. Sie haben Kirchen zerstört und viele sehr alte und wertvolle Fresken einfach übermalt. Wenn man einem Volk den Glauben nimmt, dann zerstört man es. Sie haben uns die Seele geraubt. Und sie hatten unsere Intellektuellen und Politiker deportiert oder getötet. Mein Vater erzählte mir, dass sein 20-jähriger Bruder – ein Schriftsteller und Demokrat – verschleppt und ermordet wurde. Ein Familienmitglied meiner Frau wurde ebenfalls getötet. Er war Priester und trat für freie Religionsausübung ein.

Wie hast du die Zeit der Unabhängigkeitserklärung 1991 erlebt und die Sezessionskriege in Abchasien und Südossetien?

Du musst wissen, dass Georgien schon immer der Puffer zwischen dem christlichen Europa und den muslimischen Ländern war. Wir waren ein stolzes und ein kämpferisches Volk. Wir haben unseren Glauben und unsere Freiheit verteidigt. Darum gab es auch während der russischen Besatzung immer wieder Aufstände.
Als die Menschen dann 1991 auf die Strasse gingen, kamen sie mit Soldaten und Panzern und schossen auf die Menschen. Die Innenstadt war zerstört. Ich war zu der Zeit vier oder fünf Jahre alt. Meine Familie war vermögend und wir wohnten im besten Stadtviertel von Tiflis. Sogar unser Viertel, das weit ausserhalb vom Zentrum lag, wurde teilweise zerstört. Die Fenster waren kaputt und es gab kein Gas und keinen Strom mehr. Wir froren. Und es gab kaum mehr was zu essen. Fünf Kinder mussten sich ein Stück Brot teilen. Ein Nachbar hatte eine ganze Etage seiner Liegenschaft verkauft, nur damit er sich ein paar Säcke Brot kaufen konnte.
Ich erinnere mich, wie im Winter alle Nachbarn zusammenkamen und draussen Suppe kochten und wie wir ums offene Feuer standen, um uns zu wärmen. Irgendwann hat jemand vergessen, nach dem Feuer zu schauen, und es gab eine Feuersbrunst. Unser Haus und einige andere sind niedergebrannt. In der Stadt waren ständig Schüsse zu hören. Es gab Überfälle und Raubmorde. Ich träume heute noch vom Feuer in der Nacht und von den Schüssen. Und dann waren noch die Bürgerkriege in Abchasien und Südossetien. Es war eine sehr schwere Zeit.

Gab es denn auch Sympathisanten mit der Sowjetunion?

Ja. Die alten Menschen sind immer noch geprägt vom sowjetischen Denken. Es gab damals die kommunistische Schule, die kommunistische Erziehung und das russische Kulturgut, das das unsere verdrängte. Die Religion wurde uns genommen. An ihrer Stelle kam die kommunistische Doktrin. Es wurde uns eingeimpft, dass der Westen ohne Herz und ohne Seele sei. Dass der Westen mit seinem Kapitalismus verdorben sei. Kein Herz, nur Geld und Gier. Die Sowjetunion sei Herz und Seele. Sie sorge für alle ihre «Kinder». 

Was ist danach in Georgien passiert?

Schewardnadse war langjähriger Präsident. Er war zwar Georgier, aber er war in Russland aufgewachsen und hatte dort politische Karriere gemacht. Er wollte am bestehenden System festhalten. Die Korruption war sehr hoch. Nichts passierte. Es ging nicht vorwärts.
Dann kam die Rosenrevolution und Saakaschwili. Korruption und Verbrechen verschwanden. Saakaschwili wollte die Anknüpfung an Europa und die USA, Demokratie und Marktwirtschaft. Er hat uns westliche Verbündete gebracht: Polen, Estland und die USA - George W. Bush hat uns sehr geholfen. Saakaschwili hat uns mit Geld versorgt. Er hat die georgischen Exilanten ins Land zurückgeholt; die Intellektuellen und die Reichen. Und er hat Investoren angelockt. Aber er war zu schnell vorgegangen mit der Privatisierung. Es gab immer mehr Unzufriedene. Und dann spitzte sich die Lage im Norden von Georgien wieder zu. Die Russen unterstützten die Separatisten in Südossetien mit Geld und Waffen. Sie schleusten Scharfschützen ins Land, um Grenzwachen und Polizisten zu töten. 2008 kam es zum Krieg mit Russland. Wir hatten bereits zwei Jahre vorher bei der NATO angeklopft und um Aufnahme und Hilfe gebeten. Vergebens. Heute leben nur noch Osseten und Russen dort. Alle Georgier sind vertrieben worden. Wir hatten so viele Flüchtlinge in Tiflis. Und wir haben wieder bei null anfangen müssen.     

Was die Russen damit bezwecken? Wer weiss? Vermutlich geht’s ums Geld. Sie wollen den direkten Zugang zum Iran mit seinem Öl und Gas. Und sie wollen eine militärische Pufferzone. Mit Georgien und dem Schwarzen Meer. Darum halten sie auch Abchasien (Anm.: nordwestliche Region Georgiens) besetzt und sind in die Ukraine eingefallen.   

Wie hat sich Georgien, wie haben sich die Menschen deiner Meinung nach verändert und wie schätzt du die Auswirkungen des steigenden Tourismus ein?

Ich habe Angst um Georgien. Wir haben kein Geld. Wir sind politisch isoliert und abhängig vom russischen Markt. Die EU öffnet uns die Türen nicht. Georgische Unternehmer können nicht in den europäischen Markt exportieren. Wir werden hingehalten. Immer fehlt etwas. Wenn beispielsweise die Qualität unseres Weins angemessen ist, dann stimmt was mit der Verpackung nicht. Aber man sagt uns nicht, was fehlt. Man vertröstet uns auf nächstes Jahr. Aber kein Geschäftsmann kann einfach ein weiteres Jahr zuwarten. Wir haben Verpflichtungen. Und die Russen machen sich wieder breit in Georgien. Sie schleichen über die Hintertür rein und übernehmen langsam die Kontrolle. Sie investieren viel Geld in unser Land. Sie kaufen Immobilien und Unternehmen auf. Sie unterhalten Kulturclubs. Die grössten Banken im Land sind in russischer Hand. Und wenn sie wollen, boykottieren sie uns einfach. Machen die Grenzen dicht.

Uns fehlt Geld, das nicht aus russischer Quelle stammt. Wir brauchen europäisches Know-How in Sachen Demokratie und Marktwirtschaft, um dagegen zu halten. Wie sollen wir von Europa lernen, wenn sämtliche Türen verschlossen bleiben? Ich doziere Marketing an der Universität. Aber uns fehlen die Mittel für Bücher. Ich doziere kostenlos und bezahle teilweise sogar Lehrmittel aus der eigenen Tasche.

Meine Generation ist kaputt. Schau uns an. Die Menschen laufen alle in Schwarz herum. Ja, du hast recht - wir haben unser Lächeln verloren. Ich hoffe auf die Jungen. Die Generation meiner Tochter. Der Tourismus ist gut für uns. Er bringt uns neue Ideen. Gedanken von Demokratie und Freiheit. Die jungen Menschen hier erkennen, dass der Westen nicht nur aus seelenlosen Kapitalisten besteht. Sie erkennen, dass die Touristen glücklich sind, dass es ihnen gut geht.  Aber viele Georgier sind sehr kurzsichtig. Wenn sie heute ihren Wein bezahlen können sind sie glücklich. Aber wenn wir uns nicht behaupten, wenn wir keinen Anschluss an Europa finden, sind wir verloren. Dann sind wir in 10 Jahren wieder in russischer Hand.