Ein Tag im Leben von Amir - angehender Brückenspringer von Mostar

Die Stari most, die alte Steinbrücke von Mostar, spannt sich 24 m hoch über die Neretva. Amir bewegt sich gewandt auf der schmalen Brüstung und sammelt Geld für die Männer, die sich bereit machen, den Sprung in die Tiefe zu wagen. Der Instruktor exerziert nochmals die Kommandos durch und versichert sich, dass alle Waghalsigen, die sich jetzt auf dem Geländer aufreihen, auch wirklich bereit für den Sprung sind. Die Männer sprechen sich Mut zu, fokussieren den Blick auf einen Punkt in der Ferne. Die Zuschauer halten kollektiv den Atem an. Ein hochreissen der Arme und der erste Mann ist in der Luft. Sein Flug dauert 3.5 Sekunden und endet mit einer Eintauchgeschwindigkeit von 75 km/h.

Für den 21-jährigen Amir ist der Zeitpunkt noch nicht gekommen. Sein Körper sei noch nicht hart genug. Vielleicht nächstes Jahr, meint Vanesa, die den elternlosen Jungen bei sich aufnahm und deren Mann ihn seit einigen Jahren vorbereitet. Natürlich möchte er schon heute von der Brücke springen. So wie es die vier Männer, die im Clubraum versammelt sind, täglich tun und wie es eine Handvoll Touristen heute bereits vormachten. Einer davon, ein junger Amerikaner, holt sich seine High Fives und ein Diplom ab. Obwohl nicht ganz unerfahren im Springen, hat er sich leicht verletzt. Seinen «Butt» werde er wohl noch einige Tage spüren. Die Lokalen, die sich auf die nächsten Sprünge vorbereiten, sind allesamt Profis. Sie haben ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. Amir stellt uns Admir vor, seinen Mentor. Admir ist hier auch schon am Red Bull Cliff Diving gesprungen. Er verweist auf ein Schwarzweissfoto, das einen gedrungenen, stolz lächelnden Mann in Badehose und Shirt zeigt. Der Mann auf dem Bild ist heute 80-jährig, eine Springerlegende und der amtierende Präsident des Klubs. Eine andere Aufnahme zeigt Männer auf einer improvisierten Plattform auf der vom Bosnienkrieg fast vollständig zerstörten Brücke. Das Springen ist nicht bloss touristische Unterhaltung, sondern ein Akt, dem Leben die Stirn zu bieten. Eine Lebenskunst, fast so alt wie die Brücke selbst.    

Der schmächtige Junge mit dem ernsten Blick wünscht sich nichts sehnlicher, als das Geldeintreiben und den Trainingsturm hinter sich zu lassen, und sich endlich als Mann zu beweisen. Noch sei er nicht soweit. Seine Sprünge gehen noch nicht über die 20 Meter Marke hinaus. Aber nächstes Jahr, bestimmt!